DB: Herr Dr. Kurzböck, worum geht es rechtlich in dem besagten Urteil?
Kurzböck: „In dem Urteil geht es darum, dass die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements i. S. v. § 84 Abs. 2 SGB IX keine formelle Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Versetzung ist – auch wenn die Anordnung des Arbeitgebers auf Gründe gestützt wird, die im Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand des Arbeitnehmers stehen. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die Weisung des Arbeitgebers insgesamt billigem Ermessen entspricht. Dies hatte die Vorinstanz, das LAG Baden-Württemberg, noch anders gesehen und dem Kläger Recht gegeben.“
DB: BEM ist laut BAG also keine Voraussetzung für eine Versetzung. Was bedeutet das Urteil für die betriebliche Praxis des BEM?
Kurzböck: „Das bedeutet, dass das betriebliche Eingliederungsmanagement im Bereich der betrieblichen Gesundheitsprävention und auch bei krankheitsbedingten Kündigungen weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Gerade zur Überwindung bestehender längerer Arbeitsunfähigkeiten bzw. zur Vorbeugung künftiger krankheitsbedingter Fehlzeiten kommt dem BEM eine hohe Bedeutung zu. Der Anwendungsbereich des BEM ist aber, wie nun höchstrichterlich geklärt wurde, nicht auf andere Regelungsgebiete auszuweiten – was zu begrüßen ist.“
DB: Der Rechtsstreit ist allerdings noch nicht beendet. Eine Anordnung muss stets billigem Ermessen entsprechen, so das BAG. Die Vorinstanz muss nun prüfen, ob dies im Streitfall vorlag. Was kann sich ein Arbeitgeber unter „billigem Ermessen“ vorstellen? Was hat er zu beachten?
Kurzböck: „Für eine Anordnung, die billigem Ermessen im Rechtssinne entspricht, muss eine umfassende Abwägung der wechselseitigen Interessen beider Parteien stattfinden.
Diese bemisst sich nach ständiger Rechtsprechung, nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Grundsätzen, der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit. Hierfür müssen alle Umstände des Einzelfalls miteinbezogen werden.
Hierzu gehören die Belange des Betriebs, die Vorteile aus einer Regelung, die Risikoverteilung zwischen den Vertragsparteien, die beiderseitigen Bedürfnisse, außervertragliche Vor- und Nachteile, wirtschaftliche Interessen oder Belastungen der Parteien, soziale Gesichtspunkte (Lebensverhältnisse, Familie, Kinder etc.), persönliche Umstände (Lebensalter, Gesundheitszustand, Arbeitsfähigkeit, berufliche Stellung, gesellschaftliches Engagement u.Ä.). Zu beachten ist weiterhin, dass der Arbeitgeber die Beweislast für die Ausübung des billigen Ermessens trägt.“
DB: Was raten Sie Unternehmen nach diesem Urteil?
Kurzböck: „Unternehmen sollten sorgfältig dokumentieren, wie sie ihr billiges Ermessen ausgeübt haben und welche Gesichtspunkte bei der Interessenabwägung berücksichtigt wurden. Es sollten alle wesentlichen Gesichtspunkte und getroffenen Maßnahmen erfasst werden. Aufgrund der Beweislast sollte ein Unternehmen nachweisen können, dass eine umfassende Abwägung der Belange des Betriebs und der des Arbeitnehmers stattgefunden hat.
Ist dem Arbeitgeber an einem erfolgreichen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses gelegen, sollte er immer den Dialog mit dem betroffenen Arbeitnehmer suchen. Viele Probleme, die Gegenstand eines arbeitsgerichtlichen Verfahrens sind, resultieren daraus, dass die Parteien nie miteinander gesprochen haben. Je nach Einzelfall kann der Arbeitgeber überlegen, ob er auf freiwilliger Basis ein BEM durchführt.“