Die soziale Herkunft entscheidet in vielen Unternehmen stärker über Karrierechancen als Geschlecht, Alter oder ethnische Zugehörigkeit. Das zeigt eine neue Analyse der Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) auf Basis einer Befragung von rund 27.000 Beschäftigten in 16 Ländern, darunter auch Deutschland. Laut der Untersuchung fühlen sich Menschen, die in finanziell schwierigen Verhältnissen aufgewachsen sind, bis zu 20% weniger einbezogen als Kolleginnen und Kollegen aus wohlhabenderen Familien. Sie erleben weniger Unterstützung, erhalten seltener Förderung und haben häufiger das Gefühl, sich im Job verstellen zu müssen. Auch mit wachsender Seniorität bessert sich das Zugehörigkeitsgefühl nicht, sondern die wahrgenommenen Unterschiede bleiben bestehen.
Resilienz, Pragmatismus und Empathie
Die soziale Schieflage in der Arbeitswelt beginnt somit früh und verfestigt sich über die gesamte berufliche Laufbahn hinweg. Nur 6% der Führungskräfte stammen aus einkommensschwachen Familien, während sie unter nichtleitenden Angestellten rund 28% ausmachen. Zudem gaben lediglich 20% der Befragten mit niedrigem sozioökonomischem Hintergrund an, am Arbeitsplatz sie selbst sein zu können – im Vergleich zu 43% bei Mitarbeitenden aus finanziell komfortableren Verhältnissen. Gleichzeitig hat die Untersuchung aber auch gezeigt, dass Beschäftigte aus einfachen Verhältnissen überdurchschnittlich häufig Eigenschaften wie Resilienz, Pragmatismus und Empathie entwickeln.
Das sind nach Einschätzung der Experten genau die Fähigkeiten, die in zunehmend dynamischen Arbeitsumfeldern besonders wertvoll sind: „Wer soziale Herkunft als Diversitätsfaktor anerkennt, gewinnt auch an Innovationskraft und Leistungsfähigkeit“, sagt Sebastian Ullrich, Partner und HR-Experte bei BCG. „Dabei geht es nicht um Quoten, sondern um Chancengerechtigkeit – darum, dass alle Mitarbeitenden unabhängig von ihrer Herkunft ihr Potenzial entfalten können. Doch während andere Diversitätsdimensionen wie Geschlecht oder Herkunft inzwischen stärker berücksichtigt werden, bleibt der soziale Hintergrund ein blinder Fleck in vielen Unternehmen.“
Gezielte Maßnahmen gegen die Klassenschranke
Wenn Unternehmen hingegen soziale Herkunft als festen Bestandteil ihrer Inklusionsstrategie begreifen, Verantwortliche klar benennen und Fortschritte sichtbar messen, sendet das ein starkes Signal an die Belegschaft. Dabei sollten sie schon beim Einstellungsprozess ansetzen: „Viele Hürden entstehen, noch bevor der Arbeitsvertrag unterschrieben ist“, erläutert Ullrich. „Um hier gegenzusteuern, sind zum Beispiel Bias-Trainings für Recruiter, transparente Ausschreibungen, flexible Interviewzeiten und fair vergütete Praktika sinnvoll.“ Damit soziale Mobilität im Unternehmen gelingt, müssen zudem interne Strukturen angepasst werden: Mentoring-Programme, Netzwerke, Trainings zu ungeschriebenen Regeln oder klare Kriterien für Beförderungen schaffen faire Bedingungen.
„Besonders wichtig sind sichtbare Vorbilder – Menschen, die ähnliche Erfahrungen teilen und zeigen, dass die eigene soziale Herkunft kein Hindernis sein muss“, so Ullrich. Die Analyse verdeutlicht: In Organisationen, die eine entsprechende Kultur etablieren und durch gezielte Maßnahmen umsetzen, steigen die Zufriedenheit und Bindung spürbar: Mitarbeitende aus weniger privilegierten Verhältnissen sind dort fast doppelt so häufig glücklich im Job, authentischer und stärker vernetzt. Für BCG-Experte Ullrich ist deshalb klar: „Soziale Inklusion ist für Unternehmen kein reiner Hygienefaktor. Sie ist eine Frage von Gerechtigkeit und Wettbewerbsfähigkeit.“

